Wenn Trauer alles durchdringt

das Trauerstoßpendel

 

„Der Tod meines Kindes ist jeden Bereich meines Lebens und Herzens vorgedrungen, bis in die hintersten und verborgensten Winkel, hat alles umgestoßen und im unaufhörlichen Takt durcheinander gebracht.“

 

„Was, wenn das alles nicht stimmt?“ fragte ich eine Kollegin während ich wie jeden Tag das Grab meines Kindes zurück ließ. Tränen liefen über meine Wangen und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Denn bisher hatte ich nie daran gezweifelt, dass es einen Himmel gibt – einen Ort, an dem wir unsere Toten wiedersehen. Es war so klar, dass es schon fast belanglos war. Aber seit Felix Tod brannte die Frage nach diesem Ort existenziell in meine Seele. Was, wenn diesen Ort nicht gäbe? Wenn ich mein Kind nie mehr wiedersehen würde? Oder wenn dieser Himmel nur sphärisch wäre, wie manche mir sagten, und dass das doch schön sei, dass wir alle zu Staub und dann wieder eins würden? Diese Vorstellung war für mich alles andere als schön, denn alles was ich wollte, alles, was mir Trost war, war der Gedanke, mein Kind irgendwann einmal wieder in den Armen halten zu dürfen. Aber was, wenn Felix für immer hier in der Erde liegen würde? Nichts weiter als ein vergangenes, viel zu kurzes Leben? Mein ganzes Sein war durcheinander gestoßen worden, alles tat weh. Was, wenn das, was ich bisher geglaubt hatte, einfach nicht stimmte?

 

„Mein sorgsam und geduldig über die Jahre meines Lebens zusammengesetztes Kartenhaus wehte einfach um. Und als bestünden seine Karten nicht aus robuster Pappe, sondern aus feinem Glas oder Porzellan zerfiel das Gebilde in seine Einzelteile und zerbrach in tausend Teile.“

 

Da waren so viele Fragen, auf die ich mir zuvor wie selbstverständlich beantwortet hatte: ich wusste genau, was ich glaubte und auch, wie ich leben wollte. Es war klar, dass ich Familie haben würden. Nie hätte ich daran gedacht, dass diese Möglichkeit in meiner Vorstellung einmal zerbrechen würde. Und auch meinen Glauben hatte ich zuvor nie in Frage stellen müssen. Alles schien klar, fest, unverrückbar. Diese Unschuld und Naivität verlor ich mit Felix Tod. Meine sicher geglaubte Welt brach zusammen und mit ihr auch mein Konzept vom Himmel. Denn auf einmal stimmte nichts mehr von dem, was einmal wahr gewesen war. Als ob das Leben mich betrogen hätte und mir nun gegenüberstand und mich auslachte – während ich am Boden lag und nicht wusste, woher ich die Kraft nehmen sollte, um wieder auf die Füße zu kommen. Und ganz besonders diese eine Frage zog mein Herz immer wieder aufs neue hinunter; ich suchte am Boden nach Splittern von Antworten und fand sie nicht, doch ich konnte mir nicht einfach neu zusammensetzen, was zu Bruch gegangen war:  Was, wenn die Sache mit dem Himmel nicht wahr war?

 

„In dieser Zeit brauchte ich Menschen, die für – damit meiner ich: an meiner statt – glaubten und die sich in dem, woran sie glaubten, sicher waren.“

 

„Das kann nicht sein, Andrea.“ sagte meine Kollegin. Und sie sagte es so, dass ich gar nicht anders konnte, als ihr zu glauben. Dafür bin ich ihr bis heute dankbar. Damals auf dem Friedhof, mit dem Telefon in der einen und dem Kaffee in der anderen Erde-verschmierten Hand war es dieser eine Satz, der mir Zuversicht geliehen hat. Ich konnte sie selbst noch gar nicht haben. Aber ich konnte sie einer anderen glauben. Denn es war klar: meine Welt war ins Wanken geraten, der Boden unter meinen Füßen weggebrochen. Wundes Herz, zerrissene Seele, mein Körper wie taub. Nichts würde jemals so sein, wie zuvor, vielleicht nicht einmal der Himmel. Aber er würde immer noch der Himmel sein. 

 

Text und Bild: Andrea Kuhla

Illustration inspiriert von